Manchmal, wenn ich spät abends noch draußen sitze, komme ich mir vor, wie der letzte Wächter einer entschleunigten Statd. Es gibt nur mich und den Wind; alle anderen Menschen hat es schon in die Geborgenheit ihrer Häuser verschlagen. Nur ich bin hier draußen und erfahre mit allen Sinnen meine Umgebung, begrüße die hereinbrechende Nacht wie einen alten Freund.
Der Wind und die Luft sind kalt auf meinem Körper, aber ich genieße diese kalten Berührungen, weil sie mich um so mehr meine eigene Wärme spüren lassen. Ich trotze der Kälte, denn irgendetwas hält mich hier. Eine Aufgabe, die ich nicht kenne, ein Pflichtgefühl, das ich nur mir selbst gegenüber habe.
Ich mag diese ruhigen und friedlichen Abende, an denen die Stadt die Seelen der Menschen aus ihrem Sog frei gibt und sie sich selbst überlässt – als Teil des Ganzen und doch jeder für sich frei. Ein Moment, in dem man alle Last von sich abwerfen kann und niemandem Rechenschaft schuldig ist. Der Moment, in dem die einzige Aufgabe ist, einfach nur zu sein. Man öffnet seine Sinne, spürt lange vergessen geglaubte Instinkte zum Leben erwachen und lässt seinen Gedanken freien Lauf. Es ist der Moment, in dem man sich mit seinen Ahnen bis in tiefe Urzeiten hin verbunden fühlt. Man ist nicht mehr zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort, sondern man ist einfach nur; man fühlt nicht mehr, man spürt. Man sieht die Welt einen kurzen Moment mit anderen Augen.
Und dann ist die Nacht da und nun spürt man die Kälte zunehmend und sehnt sich auch nach Wärme und Geborgenheit. Die Abendwache ist beendet und so übergibt der letzte Wächter die Stadt an die Nacht und darf sich nun endlich auch zur Ruhe legen.
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Nachtwache
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